Reden

Ansprache vor der jüdischen Gemeinschaft

Meine Damen und Herren,

 

vor 70 Jahren waren die Alliierten Streitkräfte entsetzt, als sie den unbeschreiblichen Horror in den Vernichtungslagern entdeckten. Es gibt in der Geschichte, die von unzähligen Gräueltaten geprägt ist, nichts, was mit dem Holocaust vergleichbar wäre.

Es handelt sich um ein industrielles, geplantes und methodisches Verbrechen. Es ist ein Verbrechen gegen das Wesen der Menschheit. Es ist ein Verbrechen, das der Menschheit das Recht aberkennen wollte, zu dieser Menschheit zu gehören.

 

Das war vor siebzig Jahren. Das war gestern.

 

Heute stehe ich vor Ihnen, um dieses tragischen Jahrestages zu gedenken. Ich stehe vor Ihnen, um die sechs Millionen Juden zu ehren, die während des Krieges ermordet wurden.

 

Ich stehe vor Ihnen, um dieses Verbrechen, für das es niemals Verzeihung geben wird, aufs Neue zu verurteilen. Ich werde morgen in Auschwitz sein. Ich werde am 5. Mai auch am „Train des 1000“ teilnehmen.

 

Ich bin aber heute auch hier, um die Solidarität der Regierung mit Ihrer Gemeinschaft zum Ausdruck zu bringen, die wiederum von antisemitischem Hass betroffen ist.

 

Ich sage es Ihnen in aller Deutlichkeit: Unsere Solidarität ist absolut. Unsere Solidarität ist eindeutig.

 

In Frankreich hatten die grausamen Anschläge auf Charlie Hebdo und Hyper Cacher Unschuldige als Ziel. Wir wissen jetzt, warum sie ermordet wurden. Sie wurden ermordet, weil sie Journalisten waren. Sie wurden ermordet, weil sie Polizisten waren. Sie wurden ermordet, weil sie Juden waren.

 

In Belgien wurden vor kaum acht Monaten vier Menschen kaltblütig in einem Museum ermordet, unweit von hier entfernt.

 

Diese Verbrechen sind Teil einer dramatischen Spirale von zunehmendem Antisemitismus in Belgien. 2014 wurden 60% mehr antisemitische Taten begangen.

 

Vor einigen Wochen verließ die junge Sarah die Schule „Emile Bockstael“ wegen der antisemitischen Schikanen ihrer Mitschüler. Sie war die letzte jüdische Schülerin an dieser Schule.

 

Vor einigen Monaten warf jemand Steine auf einen Autobus mit jüdischen Kindern auf dem Weg nach Antwerpen. Viele andere ähnliche Taten zeigen das tödliche Gift des Antisemitismus, das sich in der Gesellschaft verbreitet hat.

 

Ich weiß, dass Ihre Gemeinschaft momentan tief traumatisiert ist. Ich bin mir dessen voll bewusst. Ich teile dieses Trauma.

 

Ich weiß, wie besorgt Sie um Ihre Sicherheit und die Ihrer Liebsten sind. Ich weiß, wie schockierend es sein muss, Soldaten zu begegnen, die Ihre  Schulen bewachen.

 

 Ich bin empört, dass unsere Schulen in Bunker verwandelt werden müssen. Ich bin empört, dass Sie gezwungen werden, ständig unter Polizeischutz zu leben.


Wie konnte es so weit kommen?

 

Warum konnten wir den Antisemitismus nicht früher ausmerzen?

 

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die europäische Gesellschaft mit dem Gelöbnis „Nie wieder“ aufgebaut. Wie konnte es so weit kommen, dass die Sicherheit jüdischer Bürger wieder bedroht ist?

 

Ich akzeptiere das nicht. Kein Belgier kann das akzeptieren.

 

Wir wissen, dass der Antisemitismus nicht neu ist. Wir wissen, dass er schon Tausende von Jahren besteht. Aber wir konnten ihn eindämmen, sogar neutralisieren.

 

Jahrzehntelang konnten jüdische Kinder friedlich in Belgien zur Schule gehen. Dass Kinder verschiedener Herkunft gemeinsam den Unterricht an denselben Schulen besuchen, ist typisch für eine offene und tolerante Gesellschaft.

 

Es ist diese Gesellschaft, die wir in die Welt hinaustragen. Diese Gesellschaft wollen wir verteidigen. Wir dürfen diesen Rückschritt nicht akzeptieren.

 

Laut einer aktuellen Umfrage unter 5 800 Menschen in den 28 Ländern der Europäischen Union sind 76% der Meinung, dass der Antisemitismus in den vergangenen fünf Jahren schlimmer geworden ist. Und etwa 40% der in Belgien befragten Juden überlegen, das Land zu verlassen.

 

Der Kampf gegen den Antisemitismus ist also gescheitert. Die Lücken in der Vermittlung von staatsbürgerlichen Werten und der Vermittlung von universellen Werten an die junge Generation sind groß.

 

Ich weigere mich zu akzeptieren, dass Sie gezwungen sind, eine solche Entscheidung zu treffen. Kein einziger Belgier darf sich verpflichtet fühlen, eine derartige Entscheidung zu treffen. Um ein Wort des französischen Premierministers Manuel Valls in abgewandelter Form zu zitieren: „Belgien ohne Juden wäre nicht mehr Belgien.“ Europa ohne Juden wäre nicht mehr Europa.

 

Die Regierung hat gegenwärtig die Alarmstufe erhöht und 12 erste Maßnahmen gegen Terrorismus und Radikalismus ergriffen.

 

Der Einsatz der Armee zur Bewachung sensibler Orte, die Verbesserung der Ressourcen unserer Nachrichten- und Sicherheitsdienste, die Verstärkung des strafrechtlichen Arsenals gegen Radikalisierung und Terrorismus und die Schaffung eines nationalen Sicherheitsrats sind nur einige der operationellen Maßnahmen, die beschlossen wurden.

 

Aber wir müssen auch ganz gezielt und in aller Härte den Antisemitismus bekämpfen. Ich will den Kampf gegen den Antisemitismus zu einer nationalen Angelegenheit machen.

 

Antisemitismus ist natürlich vom Gesetz her jetzt schon strafbar. Ab jetzt aber wollen wir eine Nulltoleranz-Politik in Bezug auf den Antisemitismus betreiben. Wir wollen, dass die Polizei alle Anzeigen  protokolliert und an die Justizbehörden weiterzuleitet, damit diese sie weiter bearbeiten.

 

Dabei möchten wir kein Opfer gegenüber anderen bevorzugen. Wenn in Belgien eine antisemitische Tat begangen wird, sind es nicht nur die Juden, die davon betroffen sind. Es ist die gesamte belgische Gesellschaft, die angegriffen wird.

 

Ich möchte es mit den bekannten Worten des deutschen Pfarrers Martin Niemöller auf den Punkt bringen: Wenn wir nicht reagieren, wenn eine Minderheit deportiert wird, werden wir letztendlich mutterseelenallein sein, wenn der Angreifer letztendlich uns im Visier hat.

 

Als die Nazis die Kommunisten holten,

habe ich geschwiegen,

ich war ja kein Kommunist.

 

Als sie die Gewerkschafter holten,

habe ich geschwiegen,

ich war ja kein Gewerkschafter.

 

Als sie die Juden holten,

habe ich geschwiegen,

ich war ja kein Jude.

 

 Als sie die Katholiken holten,

habe ich geschwiegen,

ich war ja kein Katholik.

 

Als sie mich holten,

gab es keinen mehr,

der protestieren konnte. 

 

Ein Angriff auf Charlie Hebdo ist ein Angriff auf die Meinungsfreiheit, ein Angriff auf die Gedankenfreiheit, ein Angriff auf die Grundfreiheiten, ein Angriff auf unsere gemeinsamen demokratischen Werte.

 

Ein Angriff auf die Juden ist ein Angriff auf das Anders-Sein, ein Angriff auf die Vielfalt, ein Angriff auf die Toleranz, ein Angriff auf unsere ganze Gesellschaft.

 

Ich will einen Staat, der standhaft ist und ohne Zittern und Bangen seiner Aufgabe als Hüter der Sicherheit und Freiheit nachkommt.

 

Ein Bericht des Geschichtsforschungszentrums CEGESOMA erinnerte  uns kürzlich an eine schmerzhafte Episode unserer Geschichte.  Zwischen 1939 und 1942 war der belgische Staat „Mitläufer“ der deutschen Besatzer, als sie den Staat aufforderten, bei der Durchsetzung ihrer abscheulichen Politik der Judenverfolgung mitzuhelfen.

 

Im vergangenen Jahr hat der Senat einstimmig eine Entschließung angenommen, in dem er „feierlich anerkennt, dass die belgische Regierung, auf eine für die Demokratie unwürdige Art, mit dem deutschen Besatzer kollaboriert hat.“

 

Wir werden die Vergangenheit nicht wieder aufleben lassen. Das werden wir nicht zulassen! Meine Regierung und ich sind uns des Ernstes der Lage voll bewusst. Wir sind fest entschlossen, energisch gegen den zunehmenden Antisemitismus vorzugehen. Ich möchte Sie nochmals unserer bedingungslosen Solidarität versichern.

 

Heute bilden wir eine geschlossene Front gegen den Radikalismus, Fanatismus und Terrorismus.  

Wir sind vereint und fest entschlossen im Kampf gegen Antisemitismus.

Heute sind wir hier versammelt, damit wir morgen nicht vergessen.         Heute stehen wir aufrecht und fühlen uns alle als Juden.